Wieder einmal ist Semesterende – und damit beginnt die hitzige Debatte über mündliche Noten, vor allem bei Gymischülerinnen und -schülern. Auch in Coachings mit Jugendlichen begegnet mir dieses Thema häufig. Ein Versuch, meine Gedanken zu diesem Thema in Worte zu fassen:
Noten sind ohnehin ein kontroverses Thema. Aber wenn wir uns nur auf die mündliche Beteiligung konzentrieren, stellen sich mir einige dringende Fragen:
Viele Jugendliche wissen gar nicht, was genau von ihnen erwartet wird. Transparenz fehlt, und ohne klare Vorgaben bleibt ihnen unklar, was sie
verbessern sollen. Wie sollen sie selbstwirksam handeln, wenn die Kriterien schwammig sind?
Folgende Geschichten sind mir bereits begegnet:
Eine perfektionistisch veranlagte Jugendliche, welche fast fliessend in einer Fremdsprache kommunizieren kann, meldet sich im Unterricht besagter Sprache nie. Sie ist sich nie ganz sicher, ob ihre Antwort wohl wirklich richtig ist. Ihre Mündlichnote? Eine 3.5. Macht das Sinn? Gäbe es nicht andere Methoden, ihre mündliche Ausdrucksfähigkeit zu testen?
Ein vorlauter Jugendlicher erzählt mir mit erfrischender Klarheit: "Bei denjenigen Lehrpersonen, die mit meinen kritischen Bemerkungen umgehen können, werde ich besser bewertet, als bei denjenigen, die selbst unsicher sind. Die halten meine Bemerkungen und Fragen nur schlecht aus."
In einer Selbsteinschätzung schreibt eine Lernende: Ich sage nicht viel, weil ich mich in diesem Thema nicht sicher fühle. Im Kopf bin ich aber dabei. Die Rückmeldung der Lehrperson? Du bist in meinen Stunden mental abwesend. Kann die Lehrperson das beurteilen?
Es gibt aber auch die tollen Geschichten, zum Beispiel die von einem Lehrer, der seine Mündlichnoten nur dann "einsetzt", wenn sie die Leistung aus den schriftlichen Arbeiten positiv beeinflussen und der ganz klare Kriterien transparent macht. Zum Beispiel gibt er eine 5 für diejenigen, die "sich häufig von sich aus melden, inhaltlich vertiefte Fragen stellen oder auf schwierige Fragen bei Aufforderung antworten können".
Wir Lehrpersonen können uns fragen:
- Geht es nur um die Häufigkeit der Meldungen oder spielt die inhaltliche Qualität eine Rolle?
- Wie fair ist es, Vielredner zu belohnen, selbst wenn ihre Beiträge wenig Tiefgang haben?
- Wie bewertet man stille Mitdenkende, die sich zwar selten melden, aber geistig voll dabei sind?
- Was ist mit Perfektionisten oder unsicheren Schülern, die sich nicht trauen zu sprechen? Ist ihre Zurückhaltung automatisch mangelnde Mitarbeit?
Und mal ehrlich: Wo genau liegt im Gesichtsausdruck die Grenze zwischen Langeweile und konzentriertem Zuhören? Können wir das wirklich zuverlässig beurteilen?
Was gar nicht geht:
Die mündliche Note als Disziplinarmaßnahme zu nutzen – ein absolutes No-Go! Leistung und Verhalten müssen klar getrennt werden. So professionell sollten wir Lehrpersonen sein.
Wie könnte es gerechter gehen?
- Klare Bewertungskriterien: Schülerinnen und Schüler müssen wissen, worauf es ankommt – und ob Quantität oder Qualität schwerer wiegt.
- Vielfältige Beteiligung anerkennen: Auch schriftliche Beiträge, Gruppenarbeiten oder nonverbale Zeichen sollten zählen.
- Angstfreies Klima schaffen: Wertschätzendes Feedback und die Erlaubnis zu Fehlern ermutigen unsichere Lernende.
- Individuelle Entwicklung berücksichtigen: Nicht alle starten auf dem gleichen Niveau. Fortschritte über das Schuljahr hinweg müssen in die Bewertung einfließen.
- Selbsteinschätzung: Den Lernenden die Möglichkeit geben, sich selbst einzuschätzen und darüber ins Gespräch kommen, um Fremd- und Selbstwahrnehmung abzugleichen.
- Keine Noten als Strafe: Disziplinarische Maßnahmen gehören nicht in die Notengebung, sondern müssen anders gelöst werden.
Fazit: Mündliche Noten sind eine Herausforderung – aber mit mehr Transparenz, Flexibilität und Feingefühl können wir sie gerechter machen, falls man sie überhaupt für nötig erachtet.