Manchmal frage ich mich am Ende eines Schultages, ob ich gerade wirklich 8 Stunden fast ohne Pausen durchgearbeitet habe oder ob ich durch ein seltsames Paralleluniversum gereist bin. Heute war so ein Tag. Er begann mit einem Wunder und endete mit einem Schock – dazwischen lagen gefühlte fünf Jahre voller Fragen, Emotionen, Konflikte, Musik, Mathe, Turnen, Lieder, Tränen, Jubel, und da war auch noch ein Schmetterling.
8.00 Uhr – ein Schmetterling schlüpft.
Ein echtes Wunder! Im Klassenzimmer wird es mucksmäuschenstill, dann: Staunen, Rufe, Getuschel, große Aufregung. Ich freue mich mit meinen Schüler:innen über diesen besonderen Moment. Was für ein
Einstieg in den Tag! Wir taufen ihn Klaus. Er bekommt ein Stück Orange, um sich stärken zu können.
8.15 Uhr – Matheprüfung.
Das Staunen weicht Seufzern. Fragen über Fragen. Unklarheiten, Unsicherheit. Ich frage mich, ob wir überhaupt geübt haben. Die Kinder blicken mich an wie kurz vor einem Blackout, ich bemühe mich
um Ruhe und Klarheit, auch wenn ich innerlich leicht verzweifle.
9.30 Uhr – Proben fürs Frühlingssingen.
Einige Kinder helfen eifrig mit. Andere scheinen körperlich anwesend, aber geistig ganz woanders. Ich versuche, sie alle irgendwie zu erreichen, was teilweise gelingt.
9.45 Uhr – die Pause fällt aus.
Stattdessen ein medizinischer Notfall: Ein Schüler fällt von der Schaukel, schlägt mit dem Gesicht auf, ist benommen, blutet. Der Hauswart – zum Glück ausgebildeter Samariter – übernimmt. Ich bin
dankbar, muss ich doch daneben noch die Probe fürs Singen fertig einrichten.
10.15 Uhr – Probe.
Ich begleite am Klavier. Ein Kollege betreut meine Klasse. Aus dem Augenwinkel sehe ich zwei Jungs, die sich konsequent jeder Zusammenarbeit entziehen. Ich ignoriere es, gerade bin ich nicht in
einer Position, um dort helfend einzugreifen. Zum Glück ist immer jemand aus dem Team zur Stelle und hilft mit. Ein Hoch auf unser Team!
11.00 Uhr – Arbeiten im Schulzimmer.
Zwei Kinder stören konstant. Zwei andere machen Selfies mit dem iPad. Ein Mädchen leert aus Versehen ihre Trinkflasche aus. Ich versuche, den Überblick zu behalten, stosse aber an meine Grenzen.
Die Probe hat alle müde gemacht, das wird das Resultat davon sein. Ich unterbreche, wir widmen unsere Aufmerksamkeit nochmals dem Schmetterling. Das hilft.
11.50 Uhr – Mittagspause.
Ein kostbarer Moment des Innehaltens. Ich atme tief durch.
12.50 Uhr – Turnen.
Würfelfußball. Eine Mannschaft dominiert, die Stimmung kippt. Tränen fließen, Frust macht sich breit. Ich versuche zu deeskalieren, stärke das verlierende Team, wir suchen Strategien, sie holen
langsam auf. Voller Einsatz ist gefragt, auch von mir.
13.45 Uhr – Musik.
Lieder üben, Konzentration fördern. Doch der Schmetterling flattert durchs Zimmer und lenkt ab. Immerhin: ein schöner Kontrast zur vorherigen Turnhallendynamik.
14.25 Uhr – Pausenaufsicht.
Ein Kind weint, es wurde geplagt. Ich nehme mir Zeit zum Zuhören, zum Trösten. Ich frage mich: Haben wir als Schule genug Ressourcen, um solchen Situationen wirklich gerecht zu werden?
14.40 Uhr – Insektenprojekt.
Recherchezeit. Fragen über Fragen, wenig Konzentration. Ich weiss, die Kinder brauchen Zeit, um einzutauchen, langsam wird Ruhe einkehren und die Konzentration eintrudeln. Deshalb versuche ich,
individuell zu unterstützen, merke aber: Mein Akku ist langsam leer.
15.00 Uhr – Nachricht vom Vater.
Der Junge mit dem Schaukelsturz muss im Spital bleiben. Verdacht auf Gehirnerschütterung. Wir alle sind betroffen und hoffen, es geht ihm bald besser. Wir schicken ein Foto zur Aufmunterung,
inklusive Schmetterling.
15.15 Uhr – ein Spiel zum Abschluss.
Die Kinder lachen, ich lächle mit.
15.25 Uhr – Ich bin fix und fertig.
Einige Kinder bleiben freiwillig. Sie wollen dabei helfen, den Schmetterling freizulassen. Klaus lässt sich willig auf einen Finger locken, er setzt sich aufs Fenstersims, dann schwebt er
davon.
Heute war kein Tag, den man sich im Lehrbuch ausdenkt. Und doch ist er real. Er zeigt, wie komplex der Schulalltag in einer inklusiven Schule ist. Wie sehr wir als Lehrpersonen gleichzeitig betreuen, trösten, unterrichten, organisieren, schlichten und musizieren. Und wie schwer es manchmal ist, in all dem den Sinn nicht aus den Augen zu verlieren.
Und doch, irgendwo zwischen Schmetterling und Schaukelsturz, ist er da.